So erweckst du Figuren zum Leben

Sie bieten Projektionsfläche für unsere Wünsche und Sehnsüchte, sie verkörpern unsere dunklen Seiten, rufen Konflikte hervor und sorgen für Spannung: unsere Figuren.
Ohne Figuren keine Handlung - ohne Handlung keine Geschichte.
Also gebührt ihnen unsere besondere Aufmerksamkeit, findet ihr nicht?
Lasst uns ans Eingemachte gehen.
Schauen wir uns an, wie wir starke Figuren entwickeln, denen unser Lesepublikum bis in den Tod folgt.
In diesem Artikel beleuchten wir die wichtigsten Aspekte der Figurenentwicklung. Als da wären:
Persönlichkeit
Vergangenheit
Ziel und Motivation
Entwicklung/Veränderung
Weiter unten stelle ich euch ein paar erprobte Techniken zur Figurenentwicklung vor, die ihr gleich ausprobieren könnt.
Fassen wir zu Beginn zusammen, wieso Figurenentwicklung überhaupt wichtig ist:
Ich glaube, ich muss es nicht extra erwähnen, wir wissen es alle: Unser Publikum identifiziert sich mit den Figuren. Die einen mehr, die anderen weniger. Aber irgendwie passiert es immer – sie erleben die Geschichte durch die Augen der Figuren. Dadurch werden diese zum "emotionalen Zentrum" einer Geschichte. Sie verbinden unsere message mit der Handlung und transportieren unsere Geschichte.
Wir wollen das unterstützen. Wir erschaffen gut entwickelte Figuren, die Lesenden unsere Welt zeigen, so, wie wir sie darstellen wollen. Dafür schenken wir ihnen die Möglichkeit, sich emotional berühren zu lassen, sich voll hineinziehen zu lassen. Guter deal, mein' ich.
Ich sag`s einfach mal:
Der Erfolg deiner Geschichte steht und fällt mit der Qualität deiner Figuren. Die Story kann noch so abenteuerlich und ausgefallen sein – wenn sie durch schwache Figuren transportiert wird, sind ihre Aussichten, Spannung und emotionale Bindung zu erzeugen, recht gering.

Was sind schwache Figuren?
Schauen wir uns erst einmal an, wie es nicht geht.
Eindimensionalität - Nur eine Verhaltensweise dominiert. Andere Teile der Persönlichkeit fehlen oder treten stark in den Hintergrund.
Fehlende Tiefe - Die Figur hat keine inneren Konflikte, keine Schwächen, keine "menschlichen" Eigenschaften.
Vorhersehbare Handlungen - Die Figur folgt dem immer gleichen Hanldungsmuster
Fehlende Entwicklung - Die Figur ist am Ende der Geschichte die selbe Person wie zu Beginn.
Stereotyp - Die Figur ist reines Klischee ohne Zusatz, ohne Individualität oder entspricht einem stereotypen Bild, das wir durch eine Geschichte locker demontieren könnten
Unzureichender Hintergrund - Hast du die Vergangenheit/die Hintergrundgeschichte der Figur zu schwach entwickelt, fehlen dir an vielen Stellen konkrete Handlungsmöglichkeiten, bzw. die Gefahr, dass die Figur unglaubwürdig handelt und/oder du dich verzettelst, ist groß.
Unrealistische Stärken und Schwächen - Calm down, tät ich dazu sagen. Übertreibst du es mit Stärken und Schwächen, mutieren deine Figuren schnell zu Superheld:innen, die heute niemand mehr als Identifikationsfigur braucht, oder einem Häufchen Elend, das es nie aus seiner Soße schafft. Beides wirkt unrealistisch.
Nun
aber dazu, wie es funktioniert.
Wie erschaffen wir komplexe, starke, glaubwürdige Figuren?

Die Grundlagen der Figurenentwicklung
Folgende Punkte zeigen die Basis der Figurenentwicklung. Beschäftige dich innerhalb deines Schreibprozesses mindestens einmal damit. Wie du diese Punkte dann praktisch umsetzt, wird sich herausstellen. Aber um starke Figuren zu entwickeln - was wir hier wollen -, sind folgende Aspekte unerlässlich.
1. Hintergrund
Kindheit, Familienverhältnisse, Bildung, traumatische Erlebnisse, prägende Beziehungen – all das gibt deiner Figur Tiefe und beeinflusst ihre Entscheidungen.
Interessant bei der ganzen Sache mit dem Hintergrund ist: er muss nicht innerhalb deiner Geschichte erzählt werden.
Warum ist er dann so wichtig?
Weil
er die Persönlichkeit deiner Figur geformt hat und, wie es oben
steht, ihre Entscheidungen beeinflusst. Je besser du den Hintergrund
ausgearbeitet hast, desto logischer kannst du deine Figur handeln
lassen und die Gefahr, dass sie Dinge tut, die die Lesenden nicht
nachvollziehen können, ist deutlich geringer.
(Ja, deine Figur darf auch "unlogische" Dinge tun. So lange du sie irgendwo in der Geschichte und in ihrer Biografie begründen kannst, ist das kein Problem. Nachvollziehbarkeit ist der Schlüssel.)
2. Persönlichkeit und Eigenarten
Eine interessante Figur ist niemals nur eindimensional. Versehe deine Figur mit Stärken und Schwächen und Eigenarten wie z.B. eine spezielle Art zu sprechen, Gestik, oder ungewöhnliche Hobbys.
Deine
Figur ist z.B eine erfolgreiche Pianistin, die in ihrer Freizeit
Serienkiller-Dokumentationen guckt und beim Ausgehen gern skurille
Hüte trägt.
Du
kannst ihre Geschichte als Pianistin erzählen, die von den Dokus und
den Hüten unterstützt und/oder aufgepeppt wird. Du kannst aber auch
iher Geschichte um die Dokus erzählen und ihren Beruf nur nebenbei
geschehen lassen.
Achte nur darauf, dass du nicht zu vielen Dingen die gleiche Gewichtigkeit verpasst, damit es nicht bemüht kreativ wirkt. Frag' dich, was du erzählen willst.
3. Ziel und Motivation
Was treibt deine Figur an und warum? Gibt es nichts, was deine Figur antreibt, verläuft deine Geschichte schnell im Sand. Verstehen deine Lesenden nicht, wieso die Figur ein bestimmtes Ziel verfolgt, kann es sein, dass sie das Interesse verlieren.
Beides wollen wir vermeiden – also statten wir unsere Figuren mit einem Ziel aus (zum Beispiel die Rettung einer Person, to get the girl, einen Preis gewinnen …) und weil wir einen ordentlichen Hintergrund entwickelt haben, wissen wir auch, wieso unsere Figur dieses Ziel erreichen will (Überwindung von Selbstzweifeln, einfach Ehrgeiz oder ein bestimmtes "Beuteschema").

4. Innere und äußere Konflikte
Konflikte treiben die Handlung voran und lassen unsere Figuren wachsen. Klingt abgedroschen, ist aber so. Konflikte sind nicht einfach nur die Extra-Würze unserer Geschichte, sondern das Herzstück. Ohne Konflikte keine interessante Geschichte.
Ein
Konflikt kann natürlich ein großer Krieg sein, Streit, Feindschaft
etc., aber auch schon im Kleinen gibt es Konflikte, die unsere
Figuren zum Handeln zwingen.
Z.B. kann "Regen" ein Konflikt sein:
Wenn
ich grad zum Schwimmen an den Baggersee wollte und jetzt schüttet es
wie aus Eimern, stehe ich vor der Frage, ob ich trotzdem gehe oder
lieber zu Hause bleibe und wer weiß, wann ich dann meinen Crush je
wieder sehe?
Deine Geschichte braucht also nicht nur innere und äußere Konflikte, sondern auch große und kleine. Es gibt den Hauptkonflikt und mehrere kleinere. Jede Szene darf einen Konflikt haben.
(Zum Thema Konflikte wird es noch einen ausführlichen Artikel geben.)
5. Dialoge als Charakterisierung
In Sachen Figurenentwicklung dienen gute Dialoge als stabiles Transportmittel. Die Art und Weise, wie deine Figur spricht, sagt nämlich viel über sie aus. Bildungsstand, Aufgeschlossenheit, Herkunft, Stimmung etc.
Also darfst du der Persönlichkeit deiner Figur nicht nur bei der Planung Aufmerksamkeit schenken, sondern auch während des Schreibens.
6. Charakter-Entwicklung über Handlung
"Die Entwicklung ist ein wichtiger Punkt bei der Entwicklung."
Ich
schreibe das bewusst so, weil oft nicht klar ist, was mit
"Figurenentwicklung" gemeint ist: das Erstellen einer Figur oder
ihre Veränderung im Laufe der Geschichte? Beides ist "Entwicklung".
Ich halte es so, dass ich das, was wir in diesem Artikel tun, "Figurenentwicklung" nenne. Du kannst auch "Figurenerstellung" sagen. (Oder was eben am besten für dich passt.)
Die Veränderung, die eine Figur im Laufe der Geschichte durchläuft, nenne ich "Charakterentwicklung".
Eine
Figur, die sich nicht verändert, ist statisch und wird schnell
langweilig. Es ist mit einer der Gründe, wieso wir Geschichten
lesen: wir wollen dieser Entwicklung folgen. Wir wollen sehen, dass
etwas passiert.
Die Entwicklung muss nicht zwingend positiv sein –
du kannst auch zeigen, wie deine Figur an den Herausforderungen
zerbricht.
Es
ist aber wichtig, dass sich die Veränderungen logisch
nachvollziehbar aus der Handlung heraus ergeben.
Wenn
du die Handlung sich so zuspitzen lässt, dass deine Figur an ihren
Herausforderungen zerbricht, sie aber am Ende als strahlender Held
gefeiert wird, passt irgendwas nicht.
7. Beziehung zu anderen Figuren
Natürlich gibt es eine Menge guter Geschichten, die das Leben einer einzigen Figur zeigen. Vor allem in Kurzgeschichten ist das gut möglich, aber nicht ganz ohne, was Spannung und Entwicklung betrifft – irgendetwas brauchen die Figuren zum Interagieren. Wenn es keine anderen Figuren sind, sind es Tiere, die eigenen inneren Dämonen oder ein Spiel (Zweig, "Die Schachnovelle"). Auf jeden Fall finden Beziehungen statt.
Indem
du zeigst, wie deine Figur auf andere reagiert, zeigst du ihren
Charakter. Anhand dieser Beziehungen findet dann auch die Entwicklung (Veränderung)
der Figur statt.
Bevor wir in die Praxis einsteigen, will ich euch ein Beispiel einer gelungenen Figur vorstellen.
Eragon, der junge Drachenreiter aus Ch. Paolinis Eragon-Saga (Das Vermächtnis der Drachenreiter).

Held
wider Willen
Eragon startet als einfacher Bauernjunge, der ohne Absicht zum Drachenreiter wird. Die aufgezwungene Verantwortung lässt ihn wachsen.
Entwicklung
Eragon schlägt sich mit Fragen zu Macht und Moral herum, indem er nach und nach immer mehr über die dunklen Seiten von Krieg und Politik erfährt. Seine Naivität wandelt sich zu einer reifen Einsicht.
Beziehungen
Seine starke Verbindung zur Drachin Saphira und ihre tiefgehenden Interaktionen tragen eine Menge zu Eragons persönlichem Wachstum bei. Auch weitere Beziehungen (Murtagh, Brom, Arya) sorgen dafür, verschiedene Seiten seiner Persönlichkeit zu entwickeln.
Moralische Dilemmata
Eragon kämpft mit dem Töten und den Konsequenzen von Macht. Das macht ihn nicht nur angreifbar und verletzlich, sondern zeichnet ihn als menschlich aus.
Eragon bewahrt sich die ganze Zeit über diese Menschlichkeit und seine Verletzlichkeit. Das macht ihn relatable.

Techniken zur Figurenentwicklung
Werden wir praktisch. Ich liste dir hier ein paar Techniken auf, die du gleich nutzen kannst. Probier' sie gern mal alle aus. Vielleicht sagt dir nicht jede zu, aber die, mit denen du gut arbeiten kannst, helfen dir, deine Figuren kennenzulernen und damit, sie stärker, intensiver zu entwickeln.
1.
Charakterbögen erstellen
Ob du eine Akte anlegst oder Post-its an deine Tür klebst: beschäftige dich mit deiner Figur. Charakterbögen sind ein fantastisches Werkzeug, um eine Figur in ihrem gesamten Dasein festzuhalten. Name, Alter, Hintergrund, Stärken, Schwächen, Ziele, Ängste, Beziehungen und vieles mehr.
Der Vorteil daran, die Figur schriftlich festzuhalten, liegt darin, dass du a) nachgucken kannst, wenn du etwas vergessen hast (Augenfarbe z.B.) und b) die Figur im Verlauf der Geschichte konsistent halten kannst.
Meine Figur besitzt die Schwäche "Angst vor Wasser"? Ah ja, dann kann sie jetzt gar nicht so mir nichts dir nichts in den Fluss hüpfen.
2. Free-Writing
Was sich in der Entwicklung eines Plots bewährt hat, funktioniert auch super bei der Entwicklung einer Figur.
Schreibe 10 Minuten lang ohne Plan aus der Perspektive deiner Figur. Das kann ein innerer Monolog sein, ein Tagebucheintrag oder einfach eine Szene. Auf diese Weise tauchst du in die Gedankenwelt deiner Figur ein und erforschst ihre Persönlichkeit.
3. Dialog-Übungen
Setze deine Figur in ein Gespräch mit einer anderen Figur. Oder dir selbst als Autor:in. Hierbei kristallisieren sich folgende Dinge heraus:
- individuelle Sprechweise deiner Figur, Wortwahl
- die Dynamik zwischen den Figuren
- Konflikte und Beziehungen
4. Figur im Alltag
Stell dir vor, wie sich deine Figur im Alltag verhält. Wie reagiert sie an einem normalen Tag im Supermarkt, im Café, an der Tankstelle oder bei einer Zugfahrt? Solche Szenen zeigen uns Persönlichkeitsmerkmale, die du später beim Erzählen der Geschichte im Kopf hast. Auch hier gilt wieder: diese Dinge müssen nicht in der Geschichte stehen. Aber du weißt sie. Und anhand dieses Wissens lässt du deine Figur agieren.
5. Interview
Stelle deiner Figur Fragen zu ihrer Vergangenheit, zu Zielen, Ängsten und Träumen. Wie reagiert sie auf unerwartete Fragen? Wie reagiert sie, wenn sie provoziert wird? Perfekte Möglichkeit, die Figur in ihrer Tiefe zu entwickeln.
6. Konfliktübung
Erstelle verschiedene Konflikte (emotionale, physische, moralische). Dann überlege, wie deine Figur auf jeden dieser Konflikte reagiert. So lernst du ihr Konfliktverhalten kennen und kannst sie von beiden Seiten beleuchten: wie verhält sie sich nach außen hin, was geht dabei in ihrem Inneren vor?
Wenn ich hier sage "kennenlernen", meine ich das genau so.
Im Grunde sind wir die Autor:innen. Wir bestimmen, wie sich unsere Figuren verhalten, wie sie aufgebaut sind und was sie tun. Solche Übungen aber fordern dich selbst heraus: wenn ich meine Figur als schüchtern angelegt habe, kann ich ihr dann in einer Konfliktsituation jedes beliebige Verhalten andichten?
Ich glaube, dass wir hier nicht mehr zu hundert Prozent frei sind. Es muss nicht heißen, dass eine schüchterne Figur bei Konflikten nicht laut wird. Aber wenn sie es wird, muss es irgendwo in ihrer Biografie angelegt sein, wie es dazu kommt.
Also lerne ich hier die Figur kennen - was stammt tatsächlich von ihr und was würde ich ihr nur gern andichten?
Gleichzeitig habe ich aber natürlich die Fäden in der Hand und kann einfach nochmal zurückgehen und sie anders anlegen, wenn mir eine bestimmte Verhaltensweise nicht passt.

7. Hintergrundgeschichte
Wie oben schon beschrieben, braucht deine Figur eine Hintergrundgeschichte. Auch wenn nicht viel davon in der eigentlichen Geschichte wieder zu finden ist, ist es nicht verkehrt, sie detailliert zu entwickeln. Schreibe sie auf.
8. Deine Figur in einer neuen Umgebung
Setze deine Figur in unterschiedliche Umgebungen oder Kulturen und überlege, wie sie darauf reagiert. Wie verhält sich eine schüchterne Figur an einem unsicheren, fremden Ort? Wie in einer Menschenmenge?
9. Visualisierung
Nutze Moodboards und/oder Zeichnungen. Bilder von Kleidung, Gestik, Mimiken, Umgebungen helfen dir, eine Verbindung herzustellen, visuelle Beschäftigung mit deiner Figur bringt dich auf neue Ideen.
10. Alternative Szenen
Nimm dir eine Schlüsselszene deiner Geschichte vor und schreibe sie nun mit verschiedenen Reaktionen deiner Figur. Das zeigt dir, welche der Möglichkeiten überhaupt plausibel für die Entwicklung (Veränderung) der Figur sind. Und natürlich wie flexibel deine Figur reagiert.
11. Moralische Dilemmas
Wie entscheidet sich deine Figur, wenn sie in einem Dilemma steckt? Solche Entscheidungen geben Aufschluss über Werte und Prinzipien.
12. Wenn-Dann-Tabelle
Erstelle
eine Tabelle mit Situtaionen und überlege, wie deine Figur darauf
reagiert.
"Wenn die Figur beleidigt wird, dann reagiert sie
wie?"
Einmal aufgeschrieben kannst du abgleichen, ob die Verhaltensweisen in sich stimmig sind.
13. Nebenfiguren
Frag
mal deine Nebenfiguren, was sie an deiner Figur mögen. Oder an ihr
fürchten? So kommst du auf ganz andere Facetten in der
Persönlichkeit deiner Figur.
Starke Figuren, die wir nicht vergessen
Du
siehst, die Entwicklung deiner Figuren ist nicht ganz ohne. Es kann
nicht schaden, sich intensiv mit deinen Figuren auseinanderzusetzen,
sie gut zu durchdenken und sie dann in eine Geschichte zu setzen.
Durch solche gut entwickelten Charaktere kann eine Geschichte nur
gewinnen.